Ausgabe #6 (Juli 2010). Sonderausgabe zur Tagung „Gender, Epistemology, Life Science and Biopolitics“

Zu dieser Ausgabe Verena Schuh, David Freis, Carina Berndt
‚Hey big Spender!‘ Organspende zwischen Biopolitik und Popkultur Mona Motakef
Let’s talk about … Sexualität und Reproduktion im Zeitalter ihrer technischen Separierbarkeit Julia Diekämper
Körper und Geschlecht in der Schwangerschaft. Transformation und Aneignung medizinischen Wissens durch Gynäkolog_innen und schwangere Frauen Claudia Sontowski
Wider die Natur? Oder ein normaler biologischer Prozess? Kulturanthropologische Perspektiven auf die weiblichen Wechseljahre Meike Wolf
Biologisch gibt es viele Geschlechter Heinz-Jürgen Voß
Reduktionismus und feministische Werte Fabian Lausen
Die Kunst, nicht dermaßen naturalisiert zu werden. Fragmente einer Kritik biologischer Sexualitätsdiskurse Mike Laufenberg


 

Zu dieser Ausgabe

Verena Schuh, David Freis, Carina Berndt

 

‚Hey big Spender!‘ Organspende zwischen Biopolitik und Popkultur

Mona Motakef

Organtransplantationen sind in einem besonderen Maße von der Spendebereitschaft abhängig. Deswegen ist es bedeutsam, dass von Organspende ein positives Bild besteht.
Am Beispiel einer Werbekampagne des deutschen Herzzentrums, die auf die Superheldinnen und Superhelden von DC Comics rekurriert, wird die Argumentation verfolgt, dass Organspende in der Regel heroisiert wird. Sie gilt als die moralisch gebotene Tat und als Akt christlicher Nächstenliebe. Auf Grundlage des Theorems der Gabe wird Organspende in diesem Beitrag als ambivalent analysiert. Die Heroisierung der Organspende, die mit der Ummantelung ihrer Ambivalenzen einhergeht, wird problematisiert und das Plädoyer für eine Politisierung von Organspende entfaltet.

Let’s talk about … Sexualität und Reproduktion im Zeitalter ihrer technischen Separierbarkeit

Julia Diekämper

Seit über 30 Jahren lassen sich Sexualität und Fortpflanzung durch medizinische (medikamentöse) Maßnahmen trennen. Sexualität und Fortpflanzung sind also Lebensvollzüge, die unabhängig voneinander stattfinden können. Mit dieser Entwicklung geht ein andauerndes Interesse an den Folgen der doppelten Trennung einher, das über medizinische Fachkreise hinausgeht. Mit Medizin hat diese Auseinandersetzung sogar erst einmal wenig zu tun. Was es aber genau ist, das diese Trennung so spannend macht, dass sie es immer wieder auf die Titelblätter der Zeitungen und Zeitschriftenschafft, dieser Frage geht Julia Diekämper in ihrem Beitrag anhand der medialen Thematisierung dieser Trennung im Spiegel und in der Zeit nach. Die medialen Beiträge über die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung sind nicht nur ein Abbild eines bestimmten Wissensstandes, vielmehr sind sie in einer diskursanalytischen Lesart Produkt kultureller Deutungskämpfe.

Körper und Geschlecht in der Schwangerschaft. Transformation und Aneignung medizinischen Wissens durch Gynäkolog_innen und schwangere Frauen

Claudia Sontowski

Wie werden Körper und Geschlecht in der medizinischen Schwangerschaftsbetreuung verhandelt? Während die Vereindeutigung von Wissen charakteristisch für die befragten Ärzt_innen ist, gehen Schwangere mit Wissen um, indem sie selbst Verantwortung übernehmen: sie informieren sich, setzen körpernahe Selbsttechniken ein und wägen zwischen verschiedenen Wissensbeständen ab. Dabei, so meine These, sind Selbstermächtigung und Selbstunterwerfung nicht voneinander zu trennen. Geschlecht tritt hinter den Aspekt der Selbstverantwortung zurück und wird unausgesprochen reproduziert.

Wider die Natur? Oder ein normaler biologischer Prozess? Kulturanthropologische Perspektiven auf die weiblichen Wechseljahre

Meike Wolf

Die weiblichen Wechseljahre – die Menopause – gelten in biomedizinisch geprägten Gesellschaften als normaler Bestandteil des weiblichen Alterungsprozesses: Mit etwa 50 Jahren verlieren Frauen ihre Fruchtbarkeit, die Hormonproduktion lässt nach, und Symptome wie Schweißausbrüche, Hitzewallungen und Stimmungsschwankungen häufen sich. Doch wie gestaltet sich das Wechselspiel zwischen der biologischen Verfasstheit des alterndes Körpers und kulturell gefestigten Annahmen über die Natur der alternden Frau? Auf der Basis empirischer Befunde befasst sich der Beitrag aus einer kulturanthropologischen Perspektive heraus mit der wechselseitigen Verschränkung von biologischen und kulturellen Effekten und ordnet diesen in den Analyserahmen der local biologies ein.

Biologisch gibt es viele Geschlechter

Heinz-Jürgen Voß

Auch biologisches Geschlecht lässt sich als vielgestaltig denken; historisch – u.a. im 19. Jahrhundert – war die „Gleichheit bzgl. Geschlecht“ bzw. die „Vielgestaltigkeit bzgl. Geschlecht“ durchaus verbreitete These. Ging man bei Präformationstheorien davon aus – und tut dies auch heute noch weitgehend in der Genetik –, dass Merkmale vorgegeben und unabänderlich seien und konnte so die religiöse Annahme ausschließlich zweier differenter Geschlechter einbinden und fundieren, so führten und führen Epigenesetheorien von Differenzdenken und Zweigeschlechtlichkeit weg. Nimmt man mit Epigenese Entwicklungs- und Differenzierungsprozesse ernst, wird überzeugender erklärbar was sich in der Realität zeigt: die Vielgestaltigkeit physischer und physiologischer Merkmale.

Reduktionismus und feministische Werte

Fabian Lausen

Reduktionismus und feministische Werte: Der Begriff des Reduktionismus wird in vielen Kontexten als Schlagwort benutzt und mit Engstirnigkeit oder schlechter Wissenschaft gleichgesetzt. Von feministischer Seite wird der Reduktionistin darüber hinaus vorgeworfen, eine Position zu vertreten, die mit einem egalitären Gesellschaftsideal unvereinbar ist. Der Beitrag zeigt am Beispiel von Helen Longino, dass diesen Vorwürfen oft eine zu enge Verwendung des Reduktionismusbegriffs zu Grunde liegt und dass es ausgefeiltere reduktionistische Positionen gibt, die mit feministischen Ansichten – wie etwa dem von Longino vertretenen kontextuellen Empirismus – kompatibel sind.

Die Kunst, nicht dermaßen naturalisiert zu werden. Fragmente einer Kritik biologischer Sexualitätsdiskurse

Mike Laufenberg

Mit dem allgemeinen Bedeutungsgewinn der neuen Lebenswissenschaften werden am Übergang zum 21. Jahrhundert auch biologische Ausdeutungen von Sexualität und sogenannter sexueller Orientierung aktualisiert. Mit Bezug auf  sozialkonstruktivistische, dekonstruktivistische und im weitesten Sinne epistemologische Argumente wurden solche biologischen Sexualitätsdiskurse in der Vergangenheit häufig auf ein Problem des Wissens oder der Repräsentation reduziert. Der Aufsatz fragt dagegen nach den Möglichkeiten einer Kritik, die eingedenkt, dass mit dem biologischen Diskurs der Sexualität zugleich eine (sozial)ontologische Dimension gelebter Erfahrungen und Subjektivitäten verbunden ist.