Ausgabe #15 (August 2015)

Der NSU-Prozess. Zur Öffnung und Schließung von Räumen der Sagbarkeit innerhalb der Gerichtsformation Sophia Steneberg
The Body in Revolt. Biopolitische Prekarität und filmische Handlungsmacht in den Filmen von Todd Haynes Philipp Hanke
Das Spiel mit der Perspektive. Blick und Handlung im perspektivkritischen Spiel Max Kanderske
„There’s a better version of you out there.“ Überwachung, Personalisierung und die Sorge um sich im Selbstversuch Mary Shnayien
(Spieler + Big Data) x Analyse ≈ Erfolg – Fußball ist (keine) Mathematik. Wie Daten den Fußball beeinflussen Charlotte Braun, Lisa Seemann
Big Data im Fußball – Fußball ist (keine) Mathematik (12’12) Charlotte Braun, Lisa Seemann


 

Zu dieser Ausgabe

Die 15. Ausgabe des onlinejournal kultur & geschlecht erscheint in neuer Gestalt. Das onlinejournal hat nun Blog-Format. Es ist dadurch nicht nur eleganter geworden, das zentrale Element der Wordcloud veranschaulicht, welche Themen in welcher Häufigkeit im onlinejournal behandelt werden. Sie zeigt die Vielfalt der Themen wie auch die zahlreichen Verknüpfungen zwischen ihnen. Wir freuen uns sehr über den gelungenen Umzug und die neue Übersicht. Die Suchfunktion am unteren Ende der Seite ermöglicht, Beiträge nach Namen von Autor_innen und anderen Begriffen zu suchen. Die Bilder stehen für die Kontinuität zum bisherigen onlinejournal. Sie entstammen Artikeln vergangener Ausgaben und zeigen ausschnitthaft eine Fotografie Pierre Moliniers, AIDS-aktivistische Videokunst, ein experimentelles Video von Monira Al Qadiri, einen Interviewfilm von Karin Michalski mit Ann Cvetkovich, eine Werbekampagne für Organspende und einen Bollywood-Film mit Shahrukh Khan. Wir danken den Künstler_innen und Autor_innen für ihre Beteiligung am onlinejournal.

Die aktuelle Ausgabe beginnt mit einem Artikel von Sophia Steneberg zu der Frage, was im Rahmen des derzeit im dritten Jahr laufenden NSU-Prozesses am Münchner Oberlandesgericht über die Hintergründe der rassistischen Verbrechen gesagt werden kann und was aufgrund der formalen und materiellen Bedingungen des Prozesses unsagbar bleibt. Die Analyse ist in Zusammenhang mit einem Seminar zu den Medienpolitiken des NSU-Prozesses im Wintersemester 2014/15 am Institut für Medienwissenschaft entstanden. Die Autorin bezieht sich auf ein Konzept des Dispositivs, in Anschluss an Foucault, vor allem aber an die Medientheoretie der Rechtssprechung von Cornelia Vismann. Auch innerhalb eines strengen Gerichtsdispositivs gibt es, so Steneberg, Möglichkeiten, insbesondere aus der Perspektive der Nebenklage, die Grenzen des Sagbaren in kritischer Weise zu überschreiten.

Auch in dem anschließenden Text von Philipp Hanke fragt der Autor nach den Möglichkeiten der Ausdehnung formaler Rahmungen, im diskursiven wie ästhetischen Sinn. Er betrachtet die prekären Frauenfiguren in den Filmen von Todd Haynes. Im Kontext der Geschlechterordnung stellt der Autor fest, dass unterschiedliche Strategien der Entkörperlichung in den Filmen – Superstar, Safe und Far from Heaven – nicht nur für biopolitische Regime stehen, sondern zugleich eine vor allem ästhetische „filmische Handlungsmacht“ andeuten.

Was geschieht, wenn Blick und Handlungsakt in Computerspielen in eins fallen und sich somit der etablierten Unterscheidung zwischen Bild und Handlung widersetzen, untersucht Max Kanderske. Er veranschaulicht diese spezifische mediale Anordnung an aktuellen Independent-Spielen, in denen die Spielhandlung erst durch die Einnahme einer spezifischen Perspektive möglich ist. Im Durchgang der Elemente und medialen Bezüge entwirft der Autor ein Konzept des perspektivkritischen Spiels.

Im Selbstversuch erkundet Mary Shnayien auf andere Weise medialisierte, perspektivische Hürden und Widerstände. Die Autorin dokumentiert den Gebrauch eines Fitnessarmbands und die damit einhergehenden Herausforderungen alltäglicher Selbstregulierung, etwa in Bezug auf Ernährung, Schrittzahl und Schlafrhythmus. Dabei beobachtet sie wechselseitige Anpassungsschwierigkeiten zwischen Gerät und Userin. Sie zeigt, wie die widerstrebende und doch auch erfolgseuphorische Integration digitaler Überwachung zunächst vor allem die affektive Aufladung dieser, vermutlich nicht nur im Fitnessbereich, vergegenwärtigt.

An die Frage von Gewinn und Hindernissen allgegenwärtiger Überwachung schließt der Kurzfilm von Charlotte Braun und Lisa Seemann an. Das Video ist in einem Projektmodul zu Big Data am Institut für Medienwissenschaft im Wintersemester 2014/15 entstanden. Die Autorinnen sprechen mit Repräsentant_innen von Fußballorganisiationen, unter anderem des DFB, sowie mit Analyst_innen digitaler Dienstleister wie SAP, über die Bedeutung digitaler Messungen des Spielerverhaltens im Alltag des Profi-Fußballs. Das experimentelle Video verschränkt visuell digitale mit analogen (metaphorischen) Aufzeichnungs- und Speichertechnologien und veranschaulicht dadurch das Versprechen der Vorhersage. Dass die Bilder der Profi-Fußballspiele aus rechtlichen Gründen nicht zur Verfügung stehen, unterstreicht die Ambivalenz digitaler Erfassung. Mit dem neuen Blog-Format stellt sich das onlinejournal auf seine Weise dieser Ambivalenz.

 

Der NSU-Prozess. Zur Öffnung und Schließung von Räumen der Sagbarkeit innerhalb der Gerichtsformation

Sophia Steneberg

Der NSU-Prozess vor dem Münchner Oberlandesgericht hat zur Aufgabe, die größte rassistisch motivierte Mordserie in der bundesdeutschen Geschichte zu einem Urteil zu bringen. Doch ist das angesichts diverser Skandale um behördliche Verstrickungen möglich? Was ist im und über den NSU-Prozess sagbar, wie schränken die Vorgaben eines juristischen Dispositivs die Agierenden und die Öffentlichkeit ein? Können Herausforderungen der Formation neue Sagbarkeitsräume eröffnen?

The Body in Revolt. Biopolitische Prekarität und filmische Handlungsmacht in den Filmen von Todd Haynes

Philipp Hanke

An den Frauenfiguren des amerikanischen Filmemachers Todd Haynes scheinen sich Formen subjektivierten Leidens und biopolitischer Prekarität exemplarisch zeigen zu lassen. Als Ergebnis normierender und diskriminierender Unterdrückung drohen die Frauenfiguren – auch auf sehr körperliche Weise – zu verschwinden. Ein genauerer Blick auf queere Blickweisen, filmästhetische Subversion und einen allegorisch-metaphorischen Umgang mit politisch aufgeladenen Themen wie Identität, Krankheit, Geschlecht und Rassismus lässt jedoch die Ambivalenz dieser Entkörperlichung und Momente möglicher Handlungsmacht hervortreten.

Das Spiel mit der Perspektive. Blick und Handlung im perspektivkritischen Spiel

Max Kanderske

Blick und Handlung sind klassische Kategorien der analytischen Auseinandersetzung mit digitalen Spielen. Im Rahmen dieses Artikels soll das Konzept des perspektivkritischen Spiels, bei dem Blick und Handlungsakt in eins fallen, vorgestellt und anhand aktueller Independent-Spiele (z.B. FEZ, Monument Valley) illustriert werden.

„There’s a better version of you out there.“ Überwachung, Personalisierung und die Sorge um sich im Selbstversuch

Mary Shnayien

In einem Selbstversuch testet die Autorin das Fitnessarmband UP der Firma Jawbone, das auf Basis gesammelter Daten personalisierte Ernährungs-, Schlaf- und Sportempfehlungen ausgeben kann, und zeichnet ihre Erfahrungen mit dem UP-System auf. Dabei wird Personalisierung sowohl als Technologie des Selbst als auch als Überwachungstechnologie bestimmt und die sich an dieser Intersektion ineinander verschränkenden Begehren, Wünsche und Ängste kartographiert.

(Spieler + Big Data) x Analyse ≈ Erfolg – Fußball ist (keine) Mathematik. Wie Daten den Fußball beeinflussen

Charlotte Braun, Lisa Seemann

„Fußball ist keine Mathematik“, sagte vor vielen Jahren einmal Karl-Heinz Rummenigge. Trotzdem ist Fußball in vielen Punkten ein berechenbarer Sport. Mit der Betrachtung von Laufleistung, Passquoten und Kraft-Ausdauer fing es einmal an, mit Tracking, Chiptechnologien und Datenbanken geht es heute weiter. Früher lieferte uns das Auge als Medium Zugang zum beliebten Sport, heute übernimmt das technische Auge die Überwachung und Auswertung von Spieldaten. Ziel der Big Data-Technologie im Fußball ist der Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Vereinen – kurz gesagt: es zählt der Erfolg. Das beste Beispiel dafür ist der Weltmeistertitel der Deutschen Nationalmannschaft 2014 in Brasilien. Daten und ihre Verarbeitung haben den Fußball weiterentwickelt, geprägt und verändert. Ohne Daten würde weder das Fernsehbild beim Zuschauer ankommen, noch das Spiel in der heutigen Form existieren. Im Kurzfilm berichten Funktionäre des DFB, des BVB und der Softwarefirmen SAP, Deltatre und Scout7 über ihre Sicht auf Big Data im Fußball.

 

Big Data im Fußball – Fußball ist (keine) Mathematik (12’12)

Charlotte Braun, Lisa Seemann