Ausgabe #25 (August 2020)

Sich radikal in der eigenen Zurichtung fühlen können – Über pop-feministische Erfahrungsliteratur, unmögliche Emanzipation und das notwendige Scheitern der Form Constanze Stutz
Back into the Mainstream: Das subversive Potenzial von Pose Raphaela Kossinis
Die politischen Dimensionen des YouTube-Algorithmus Louisa Heerde, Isabela Przywara, André Wieczorek
The SIMple Things In Life – Das anthropomorphe Gameplay der virtuellen Lebenssimulation Theresa Solbach, Friederike Hutter, Sahra Popal, Marta Lelek


Zu dieser Ausgabe

Die diesjährige Sommerausgabe #25 des onlinejournal kultur&geschlecht versammelt vier Beiträge: zwei Texte, ein Radiofeature und einen Kurzfilm.  Dabei zeigt jeder Beitrag auf unterschiedliche mediale Weise und anhand verschiedener Gegenstände wie dem zeitgenössischen Popfeminismus, der Netflix-Serie Pose, dem virtuellen Lebenssimulationsspiel Die SIMS und der Wirkmacht des
YouTube-Algorithmus für rechte politische Bewegungen, dass die kritische Analyse von Kultur und Geschlecht in der Popkultur die Perspektive auf das Verhältnis von Medien und Macht mit einbezieht.

Constanze Stutz fragt nach dem politischen Einsatz des Popfeminismus‘ bei Margarete Stokowski und Laurie Penny und analysiert hierfür deren Erfahrungsbegriff: Laufen populäre zeitgenössische Feminismen Gefahr, emanzipatorisches Potenzial in Selbstverwirklichungsangebote aufzulösen?

Auch Raphaela Kossinis‘ Beitrag zur gefeierten Netflix-Serie Pose problematisiert mit Rückbezug auf Judith Butlers Kritik von Drag das subversive Potenzial zeitgenössischer Popkultur und stellt in Frage, dass die Serie heteronormative, weiße Geschlechterordnungen durch die Darstellung von trans* Geschlechtsdentitäten entnaturalisiere.

Auf Grundlage eines praktischen Selbstversuchs leisten Louisa Heerde, Isabela Przywara und André Wieczorek einen Beitrag zur Aufklärung über die Wirkmacht des YouTube-Algorithmus: Ihr Radio-Feature dokumentiert, warum dieser es auch im deutschsprachigen Internet so leicht macht, in ein rechtsextremes Rabbit Hole zu geraten.

Mit viel Ironie entlarvt Theresa Solbachs, Friederike Hutters, Sahra Popals und Marta Leleks Kurzfilm The SIMple Things in Life den Anthropomorphismus, der das Spielvergnügen im Computerspiel Die SIMS bedingt, indem die Protagonistin des Spiels sich den darin wirkenden Herrschaftsverhältnissen widersetzen und der künstlichen Spielintelligenz sowie ihrem Spieler zu entledigen vermag.


Sich radikal in der eigenen Zurichtung fühlen können – Über pop-feministische Erfahrungsliteratur, unmögliche Emanzi- pation und das notwendige Scheitern der Form

Constanze Stutz

Populäre Texte über Feminismus und weibliche Erfahrung in der Gegenwart von Autorinnen wie Laurie Penny und Margarete Stokowski beginnen bei ihrer eigenen Gewordenheit: Wie wurde ich von dieser Gesellschaft zur Frau gemacht und was kann ich gegen die Gewalttätigkeit tun, die diesem Prozess immer auch eingeschrieben ist? Ihre feministische Erfahrungsliteratur ist dabei zugänglich, unterhaltend und kathartisch in der Darstellung des beißenden Unbehagens mit der eigenen weiblichen Subjektwerdung in einer patriarchal-kapitalistischen Gesellschaft. Vieles von dem, was sie schreiben ist richtig und notwendig. In letzter Konsequenz bleiben beide jedoch bei einer individualistischen Herstellung von Handlungsfähigkeit stehen, deren Befreiungsversuche allein vereinzelte Strategien des weiblichen Empowerments anbieten.
Der Artikel vermisst daher das Verhältnis von Erfahrung als Selbsterfahrung und Erfahrung als Grundlage für individuelle und gesellschaftliche Veränderung in populärer feministischer Literatur und geht durch eine Analyse der Funktion von Erfahrung im Schreiben von Laurie Penny und Margarete Stokowski dem widersprüchlichen Verhältnis von Pop und Feminismus in der Gegenwart nach.

Back into the Mainstream: Das subversive Potenzial von Pose

Raphaela Kossinis

2019 launchte mit Pose eine Netflix-Serie, die von Kritiker*innen aufgrund ihres hohen Anteils an trans Schauspieler*innen augenblicklich als LGTBIQ*-Superserie gefeiert wurde. Aber eine nähere Betrachtung lohnt sich. Dieser Artikel zeigt im Anschluss an Judith Butlers theoretische Überlegungen zum subversiven Potenzial von Drag in Bodies that Matter auf, dass die Repräsentationspolitik der Serie nicht selbstverständlich gleichzusetzen ist mit der Subversion binärer Geschlechterordnungen. Vielmehr enthüllt Pose zwar den inszenatorischen Charakter von Geschlechtsidentitäten, garantiert damit allerdings keine Entnaturalisierung von Geschlechternormen, sondern riskiert ihre Reidealisierung im Dienst eines weißen, heterosexuellen Mainstreams.

Die politischen Dimensionen des YouTube-Algorithmus

Louisa Heerde, Isabela Przywara und André Wieczorek

Seitdem YouTube als eine der relevantesten sozialen Plattformen unserer Zeit etabliert ist, wird dem Videoportal vorgeworfen, durch die Funktionsweise des zugrundeliegenden Empfehlungsalgorithmus die Bildung homophiler Interaktionsräume auf der Plattform zu begünstigen und zudem Inhalte, die einer politisch rechten Ideologie entstammen, zu befördern. Da nicht alle Parameter und Prozesse, die in den Algorithmus einfließen, von YouTube offengelegt werden, haben wir mithilfe eines Selbstexperiments den Versuch unternommen, die politischen Dimensionen des YouTube-Algorithmus offenzulegen. Dafür haben wir das linke und rechte Spektrum auf YouTube untersucht: So bezeichnet die Positionierung als linke_r Akteur_in auf der Plattform eine dezidierte Gegenposition zum rechten Netzwerk und entstammt keiner extremistischen Ideologie, sondern schließt unter anderem Akteur_innen etablierter journalistischer Medienanstalten ein. Zudem stellen wir fest, dass die als neutral definierte Persona vom Algorithmus als männlich kodifiziert wird und im weiteren Verlauf unseres Experiments recht schnell mit eindeutig rechten Akteur_innen in Kontakt kommt. Begleitend zu dieser Projektarbeit erscheint ein Audio-Feature festgehalten, in welchem Expert_innen aus Wissenschaft und Journalismus zu YouTubes Empfehlungsalgorithmus Stellung beziehen.

»Die politische Dimension des YouTube-Algorithmus« – Radiofeature

The SIMple Things In Life – Das anthropomorphe Gameplay der virtuellen Lebenssimulation

Theresa Solbach, Friederike Hutter, Sahra Popal und Marta Lelek

Die SIMS bringt eine gesteigerte Intimität zwischen Spieler_in und Spielfigur mit sich. In diesem Zusammenhang erweist es sich jedoch als lohnend noch eine_n weitere_n Akteur_in in den Fokus zu nehmen: die Spiele-KI. Im Spannungsfeld von Spieler_in, Spielfigur und Spiele-KI bedarf die Handlungsmacht der steten Aushandlung. Der Projektfilm The SIMple Things in Life nähert sich diesem Prozess auf eine ironisch-kritische Weise an. Anthropomorphismus wird dabei nicht auf die Verklärung menschlicher Intelligenz reduziert, sondern als zentrales Analysewerkzeug zur Sichtbarmachung sowie Dekonstruktion hegemonialer Machtgefüge interpretiert.